12.07.2018 Bestseller-Autor Oliver Uschmann porträtiert Marcus S. Kleiner
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12.07.2018 Bestseller-Autor Oliver Uschmann porträtiert Marcus S. Kleiner

12.07.2018 Bestseller-Autor Oliver Uschmann porträtiert Marcus S. Kleiner

Marcus S. Kleiner „Sagen, wie et is!“ oder Wie ein Professor Phänomene begreifbar macht

Der Vorplatz eines Fußballstadions. Bierstände. Imbissbuden. Menschen in Trikots, Fanschals und Jeanswesten mit Aufnähern. Familien, die Freizeitparks lieben und Open Airs von Helene Fischer. Männer, die unter der Woche Holz drechseln oder Fliesen legen. Frauen, die in der Nachtschicht Patienten versorgen. Oder umgekehrt. In jedem Fall Personen, die üblicherweise wenig über Theorie nachgrübeln. Ein handelsüblicher Professor fiele in dieser Kulisse auf. Vor allem dann, wenn sein Fachgebiet Popkultur lautet, denn paradoxerweise lebt kaum eine Spezies in in höheren Etagen des Elfenbeinturms als jene, die sich mit dem Populären beschäftigt. Einige Goethe-Experten sind Malocher dagegen.

Professor Marcus S. Kleiner könnte vor dem Stadion ein Schwätzchen halten, ohne befremdete Blicke zu ernten und das nicht bloß, weil er ein Duisburger Urgestein ist. Seine Eltern waren als Lehrerin und Anwalt zwar klassische Bildungsbürger, jedoch tief im realen Leben verwurzelt. An einer Brennpunktschule und an der Seite weniger wehrhafter Angeklagter brachten sie ihr Wissen und ihren Intellekt menschenfreundlich zur Anwendung in der echten Welt. Genau das ist auch Kleiners Anliegen als Gelehrter und Publizist. Er macht die theoretische Reflexion über Pop und Medienkultur zur praktischen Ressource des Begreifens, die bei Interesse jeder anzapfen kann.

„In meiner Jugend war nichts mit Theorie“, erinnert sich Kleiner. Er stammt noch aus einer Zeit jenseits der Beliebigkeit, in der man als Teil einer Subkultur für diese seinen Mann stehen musste – notfalls auf Kosten der Gesundheit. „Als Rockabilly habe ich mir bei diversen Gelegenheiten die Nase gebrochen“, lacht er. Diese Verbindlichkeit wendet er heute auf seine intellektuelle Arbeit an. Seine Texte haben Haltung, ohne dabei politisch und methodisch berechenbar zu sein. Sie geben dem Publikum griffige Tools zur konstruktiven Demontage von Phänomenen in die Hand, um deren Funktionsweise zu verstehen und motivieren über die reine Analyse hinaus jeden dazu, ein eigenes, kritisches Urteil zu fällen. Kleiner macht größer, was beachtet und geachtet gehört und stutzt zurecht, was über Jahre hinweg unter Zuhilfenahme von viel zu viel heißer Luft zur scheinbaren Bedeutsamkeit aufgeblasen wurde. Sich gemeinsam mit ihm abseits vorgegebener Bahnen seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist ein ein Erlebnis geistiger Ermächtigung.

Neben dick gebohrten Brettern, mit denen jeder Akademiker seine Stege durch die akademische Landschaft zimmert, hat Marcus S. Kleiner die Kulturlandschaft von Beginn an nicht bloß analysiert, sondern auch selber mit Büchern und Reihen bereichert, die abseits geschlossener Zirkel zur Essenz des vitalen Diskurses über Pop und Medienkultur zählen. Die von ihm zwischen 1999 und 2004 mitherausgegebene Kulturbuchreihe Quadratur beschrieb die Ruhr-Nachrichten als „befreit von aller akademischen Schwere“. Sie belebe „den klassischen Essay neu“ und überzeuge vor allem dadurch, dass die Autoren nicht „eine Position belegen“, sondern eine „offene Diskussion auslösen“ wollen. Eine Beschreibung, die Kleiners Arbeit bis heute auf den Punkt bringt. Die meisten seiner Kollegen tragen bei allem, was sie tun, eine Weltenfilterbrille. Sie sind Marxisten, Systemtheoretiker oder Späterben der Frankfurter Schule. Marcus Kleiner lässt diese Brille weg, egal ob als Herausgeber wissenschaftlicher Buchreihen bei transcript oder VS, Professor an zahllosen Hochschulen, Gutachter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Sprecher der AG Populärkultur und Medien in der Gesellschaft für Medienwissenschaft, spitzzüngiger Radiokolumnist des SWR oder personelle Säule an der Hochschule der populären Künste in Berlin, in deren Räumen tatsächlich die angehenden Praktiker der Popzunft auf die Rampe geschickt werden. Sein eigentlicher Antrieb besteht nicht darin, Erkenntnisse zu verschleiern, indem er sie in die Camouflage-Klamotten akademischer Codes kleidet. Stattdessen pflegt er bei aller wissenschaftlichen Sorgfalt das zu tun, was im Ruhrgebiet Ehrensache ist und auch nur im Pottslang ausgesprochen werden kann: „Sagen, wie et is!“

In den höheren Etagen des Elfenbeinturms ist man über diese Hinwendung zum interessierten Laienpublikum alles andere als erfreut. Empört schütteln die Gelehrten dort die Köpfe wie die spitzhütigen Leiter der unsichtbaren Universität der Scheibenwelt, wenn ihr unkonventioneller Jungzauberer Rincewind mal wieder unerwünschte Wege geht. Kleiner erleidet somit ein ähnliches Schicksal wie andere Outlaws, die es gewagt haben, das geistige Manna akademischer Betrachtungen aus dem Turm hinunter in die Dörfer der Ebene zu tragen. „Im klassischen Universitätsbetrieb kriege ich kein Bein mehr auf die Erde“, sagt er und klingt dabei so, als hielte er das mittlerweile für eine Auszeichnung. Was die Bügelhemden und Ellebogenpatches in den hohen Etagen auch nie verstehen werden, ist Kleiners Abkehr von der typisch deutschen Tradition reiner Innerlichkeit. Üblicherweise überhöhen die Geistesmenschen den Inhalt und vernachlässigen die Bedeutung der Form. Auf der Geringschätzung des Äußeren gründen sie ihre Identität. Kleiner hingegen zeigt auf, dass die Beschäftigung mit der Oberfläche alles andere als oberflächlich ist – gerade im Populären sowie in der Alltags- und Medienkultur. „Style“, betont er, „hat herausragende kommunikative, soziale, psychologische und konzeptuelle Bedeutung.“ Sich selbst nimmt er dabei als Analytiker nicht aus der Rechnung. Zwar lässt er sich für seinen ausgelebten Geschmack nicht mehr auf die Nase hauen, tritt aber stets in wohlgewählter Weise auf. Zugleich ist er kein Bohéme. Während die Prominenz der deutschen Intelligenz entweder Lösungen vorschlägt, denen man ihren Ursprung im Turm ansieht oder aber in raunender Weise dem neoliberalen Sozialdarwinismus einen Persilschein ausstellt, fragt Kleiner sich stets sehr konkret, welche Wunden und Spuren Phänomene wie die Globalisierung oder das digitale Zeitalter in den Dörfern der Ebene hinterlassen.

Die Stadionbesucher bekommen sämtliche Entwicklungen der Weltgeschichte ungefiltert zu spüren. Den Niedergang der klassischen Industrien. Den Aufstieg rätselhaft bösartiger Rapmusik, die die eigenen Söhne gemeinsam mit den Migrantenjungs feiern. Die radikale Veränderung der Medienwelt. Marcus S. Kleiner könnte ihnen dazu beim Bierchen eine Menge Erhellendes, Klärendes und durchaus auch Beruhigendes berichten. Schließlich gilt auch bei den Phänomenen des Pop und der Medienkultur: Kenntnis der Sachlage schützt vor Herzinfarkt. Nicht ohne Grund greifen mittlerweile die Redaktionen von Spiegel bis Bild, von Deutschlandfunk bis WDR und von Phoenix bis RTL nach dem Zettel mit der Telefonnummer des Kleiner, wenn es darum geht, zu aktuellen Geschehnissen einen charakterstarken Kommentar einzuholen, den jeder gut verdauen kann und der dennoch ausreichend intellektuelle Kalorien mit sich bringt.

Womöglich macht das Zeitlose, das Verbindliche und das Beseelte von Kleiners Arbeit am Ende allerdings die Tatsache aus, dass seine Beschäftigung mit etwas scheinbar Flüchtigem wie Pop immer auf dem Bewusstsein der letzten Fragen fußt. Seine allererste Monografie trug den Titel „Im Bann von Endlichkeit und Einsamkeit? Der Tod in der Existenzphilosophie und der Moderne.“ Eine seiner aktuellsten Arbeiten beschäftigt sich mit dem wuchtigsten und breitenwirksamsten existentialistischen Epos der Gegenwart: Der TV-Serie The Walking Dead.

Ein allerletzter, wenig beachteter Aspekt, wieso man Marcus S. Kleiner im Hörsaal, im Radio und an der Trinkhalle besonders gerne zuhört, ist seine tiefe, sonore und zugleich knisterfrei satte Stimme, deren Klang allein schon eine Schneise in das Dickicht des medialen Gegenwartsgeplappers schlägt. Erlebt man ihn live oder auf dem Bildschirm, kommen die Wucht des Gesagten, der Stil seiner Sprache und der „Style“ seines Auftretens zusammen. Ein Trio, das in Erinnerung bleibt.

 

Oliver Uschmann
Schriftsteller * Journalist * Wortguru

 

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