Südkurier. Die Deutschen lieben es gemütlich. Kehrwoche und Karneval als zwei Seiten derselben Medaille.
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Südkurier. Die Deutschen lieben es gemütlich. Kehrwoche und Karneval als zwei Seiten derselben Medaille.

Südkurier. Die Deutschen lieben es gemütlich. Kehrwoche und Karneval als zwei Seiten derselben Medaille.

Marcus S. Kleiner im Gespräch mit Tilman P. Gangloff zu „Deutschland 151. Porträt eines bekannten Landes in 151 Momentaufnahmen“.

Quelle: Südkurier

Auszüge aus dem Interview

``Herr Kleiner, wie kommt ein Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft dazu, ein Buch über Deutschland zu schreiben?
MARCUS S. KLEINER: Das war sogar sehr naheliegend. Ich setze mich schon seit Jahrzehnten intensiv mit Deutschland auseinander und versuche, dieses Land in seinen verschiedenen Aspekten zu verstehen: popkulturell, medial, politisch und lebensweltlich. Die vorgegebene Struktur des Buches – 151 Essays, keins länger als eine Seite – lässt zwar keine allzu tiefschürfende, aber zumindest eine sehr pointierte und unterhaltsame Analyse einzelner Phänomene zu. Die Grundfrage lautet: Wie hat sich Deutschland nach 1945 mit Blick auf diese Themen bis zur Gegenwart entwickelt? Aber auch: Gibt es heute wirklich noch etwas typisch Deutsches? Oder beziehen sich viele von uns nicht vielmehr auf deutsche Eigenarten, die sich in den letzten 76 Jahren verändert haben? Und Deutschland mit ihnen?
Nach welchen Kriterien haben sie die 151 Aspekte ausgewählt?
MARCUS S. KLEINER: Ich habe mich ganz subjektiv für Facetten entschieden, die mir interessant und relevant erschienen. Natürlich ist klar, dass die 151 Momentaufnahmen der Komplexität Deutschlands nicht annähernd gerecht werden. Ich wollte einen Überblick geben: zu ökologischen und politischen Fragen, zu deutschen Tugenden, zu unserer Liebe zu Fleischwaren und Kaffee, und natürlich zu Themen, die eng mit der deutschen Lebensart verbunden sind, etwa Gemütlichkeit. Ich möchte die Leserinnen und Leser einladen, ihren Blick zu verändern: auf ihre Heimat wie auch auf ihr eigenes Denken und Handeln.
Bücher über Deutschland gibt es zu Dutzenden. Was ist das Alleinstellungsmerkmal von „Deutschland 151“?
MARCUS S. KLEINER: In kaum einem der anderen Bücher wird berücksichtigt, dass wir in einer interkulturellen Gesellschaft leben. Beim Thema deutsche Tugenden spielen die Einflüsse von Mitbürgern mit ausländischen Wurzeln überhaupt keine Rolle. Das ist ein strukturell diskriminierender Blick auf unser Land und die Menschen, die hier leben. Am Erstarken der Rechten wird zudem überdeutlich, dass unser Land nach wie vor ein erhebliches Problem damit hat, Rassismus und Antisemitismus, die offenkundig immer noch tief verwurzelt sind, zu überwinden. Mit diesem Aspekt setze ich mich an vielen Stellen auseinander, etwa in den Kapiteln zu den „Gastarbeitern“, zur „Kanaksprak“ oder zu Querulanten.
Einige Aspekte sind wenig überraschend, weil sich die meisten Deutschen darauf einigen könnten: Brot, Fußball, Heimat, Schnitzel. Welche Erkenntnis hat Sie selbst am meisten über- rascht?
MARCUS S. KLEINER: Ich habe festgestellt, dass sich durch ganz viele Facetten eine Nostalgiesucht zieht. Es gibt eine tief verwurzelte Sehnsucht nach einer glorifizierten Vergangenheit und damit auf ein Deutschland, das es so niemals gegeben hat. Ich beschreibe das im Kapitel über Gemütlichkeit: Meine Großeltern sind aus der DDR geflohen und haben sich mit der „guten Stube“ einen Ort eingerichtet, der ihnen eine Zuflucht bot. Hier konnten sie all’ das, was sie verloren hatten, nostalgisch verklären, hier haben sie sich vor der überfor- dernden Gegenwart geschützt. Solche Schutzräume vor der rauen Wirklichkeit kennt im Grunde jeder. Auch das ideologische Handeln der AfD zielt darauf ab, nostalgisch gefärbte Schutzräume anzubieten, aus denen all’ jene ausgeschlossen werden, die nach Ansicht der Rechten nicht dazugehören sollen.
Gab es Erkenntnisse, die Sie irritiert haben?
MARCUS S. KLEINER: Ja, die Deutschen bewegen sich nicht gern. Das klingt paradox, weil wir zumindest bis zum Ausbruch der Pandemie so viel verreist sind wie noch nie, aber die Vorliebe zum Camping zeigt: Wenn schon Urlaub, dann nehmen wir unser Zuhause mit, denn Zuhause ist es doch eigentlich am schönsten. Oder wir fliegen nach Mallorca in unser 17. Bundesland. Wenn wir im Ausland sind, essen wir am liebsten das gleiche wie daheim.
Typisch deutsche Facetten Ihres Buchs sind unter anderem Karneval und Kehrwoche. Zwischen diesen beiden Aspekten liegen Welten – oder handelt es sich um zwei Seiten derselben Medaille?
MARCUS S. KLEINER: Es gibt ein Leitnarrativ, das sich durch alle Kapitel zieht, und das ist meine Wahrnehmung von Deutschland als einem ausgesprochen ambivalenten Land. Ersetzen Sie Karneval durch Berghain: Natürlich kann man als Schwabe, der brav seine Kehrwoche einhält, halb nackt in dem Berliner Techno-Club tanzen. Diese Ambivalenz erlebt man hier immer wieder. Wir sind Reiseweltmeister und machen Ferien auf Balkonien; wir reisen kulinarisch um die Welt und landen dennoch am Ende wieder bei Brot, Bier und Wurst.
Sie sind Jahrgang 1973. Wäre das Buch anders ausgefallen, wenn Sie zehn Jahre jünger oder älter wären?
MARCUS S. KLEINER: Ja, auf jeden Fall. Subjektive Perspektivierungen hängen immer stark mit der eigenen Biografie zusammen. „Deutschland 151“ ist kein Buch eines Historikers oder Politikwissenschaftlers. Ich bin an einem bestimmten Ort ge- boren und als Kind meiner Eltern aufgewachsen, beides hat natürlich meine Sichtweise auf dieses Land geprägt. Meine Eltern waren in den Siebzigern große Fans der Serie „Ein Herz und eine Seele“, und ich habe festgestellt, dass es notorische Querulanten wie „Ekel“ Alfred Tetzlaff in allen Phasen der deutschen Geschichte gegeben hat. Heute protestieren sie gegen die sogenannte Corona-Diktatur. Neben dieser generationellen Gebundenheit wollte ich mich trotzdem auch mit Phänomenen befassen, die es vor und nach meiner Zeit gegeben hat. Wer heute über Deutschland schreibt, darf beispielsweise die junge Generation „Woke“ mit ihrem ausgeprägten Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeit nicht ignorieren.``

Herzlichen Dank an Tilman G. Gangloff für unser Gespräch.