05 Jan Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Zukunftsmusik. Wie hört man 2030? Acht Szenarien.
Ein Essay von Marcus S. Kleiner und Holger Schulze.
Ein Auszug aus dem Essay:
Zukunftsmusik
Wie hört man 2030? Acht SzenarienVon Marcus S. Kleiner und Holger Schulze
Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 05.01.2020, Nr. 1, S. 34.
Wer Musik hört, hört sie fast immer in den Grenzen der eigenen Zeit und Kultur. Bevor Techniken des Aufzeichnens und Abspielens im 19. Jahrhundert erfunden wurden, war Musik an bestimmte Orte gebunden: ob bei Hofe oder auf dem Markt, ob im Wirtshaus oder auf dem Rummel, in der bürgerlichen Stube oder zum Gottesdienst. Das änderte sich mit dem Grammophon, dem Volksempfänger, mit der Hifi-Anlage im Wohnzimmer, dem Walkman, den MP3-Playern unterwegs und im Augenblick mit den Streaming-Diensten. In fast jeder Situation und zu nahezu jeder Zeit kann man nun aus unvorstellbar vielen Musikstücken wählen. Wohin führt diese Befreiung: Ersehnen wir weitere Entgrenzungen? Setzen wir uns künftig neue Grenzen? Erleben wir Musik dadurch anders? Idealisieren wir die Vergangenheit? Acht Szenarien zum Musikhören der nächsten Jahrzehnte.
KEINER KAUFT MUSIK
Ich erwerbe Musik (was für eine befremdliche Formulierung, nicht?) nur noch in Ausnahmefällen. Niemand kann sich heute den Erwerb mehr leisten. Musikhören wird von Experten- und Assistenzsystemen organisiert und kuratiert. Sie wissen doch viel besser, was du jetzt hören musst und willst - vor dem Einschlafen, beim Workout, vor dem Termin oder zum Kochen. Das Tollste aber: Sie verlangen keine Extragebühr! Deine übliche Mitgliedschaft bei einem der globalen Datendienstleister reicht aus. Wenn Du ein bestimmtes Vintage-Album, etwa des frühen 21. Jahrhunderts, erwerben möchtest, musst du in eines der Sammlerforen gehen. Unter 2000 Yuan gibt es da kaum etwas. Dafür kriegst du dann Originaldatensätze von frühen MP3. Viele erinnern sich gerne an das futuristische Hoppeln durch die niedrige Kompressionsrate jener Jahre.AKUSTISCHE PAWLOWS
Überall, wo ich bin, ist meine Musik. Unmittelbar und zum kleinsten Preis. Mein Musikerleben ist zu einem digital-akustischen Anzug geworden, der sich mir jederzeit gut anpasst. W-Lan ist überall. Ich nenne das Freiheit. Ein Freund von mir - ein analoger Euphoriker, wie ich ihn nenne - kann das nicht nachvollziehen. Er behauptet, Streaming mache musikalisch taub, weil man sich durch die Allverfügbarkeit weniger intensiv mit der Musik auseinandersetze. Streaming-Dienste, denkt er, würden permanent einen neuen Mainstream erzeugen, der immer zu mir passen und sich mir anpassen würde. Playlisten sind für ih ein Manipulationswerkzeug. Die Vielfalt an Musik verschwinde damit ebenso wie eine Breite der Musikerfahrung. Streaming-Dienste konditionierten uns, sie machten uns zu akustischen Pawlows. Für mich ist das eine Verschwörungstheorie.(...)