LUXEMBURGER WORT. “Medienexperte: ,Eingesperrt in eine Unterhaltungsfilterblase.‘”
Marcus S. Kleiner im Gespräch mit der Paula Konersmann (KANN) über "Streamland. Wie Netflix, Amazon Prime und Co. unsere Demokratie bedrohen".
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LUXEMBURGER WORT. “Medienexperte: ,Eingesperrt in eine Unterhaltungsfilterblase.‘”

LUXEMBURGER WORT. “Medienexperte: ,Eingesperrt in eine Unterhaltungsfilterblase.‘”

Marcus S. Kleiner im Gespräch mit der Paula Konersmann (KANN) über „Streamland. Wie Netflix, Amazon Prime und Co. unsere Demokratie bedrohen“.

Quelle: LUXEMBURGER WORT

ZITATE:

„Marcus S. Kleiner, finden Sie es nicht gut, dass Kultur derzeit immerhin digital ein Publikum findet?
Dass man seiner Liebe zum Film oder Serien Ausdruck verleihen kann, ist per se gut. Und es ist auch gut, dass es in Corona-Zeiten möglich ist, Kultur zu konsumieren. Die Frage lautet jedoch, was die Folgen dieses Konsums sind. Die starken Akteure der Digitalwirtschaft fördern einen digitalen Überwachungskapitalismus und eine Ausbeutungswirtschaft.
Was meinen Sie damit?

Die Daten von Streaming-Nutzern werden in jeder Sekunde erfasst. Das passiert im Kino oder in der Videothek nicht. Aus diesen Daten geht hervor, was ich sehe, wann, wie lange, wo ich anhalte, welche Schauspieler ich mag. Wer die Daten auswertet, erstellt das, was ich „Netflix-Persona“ nenne – und empfiehlt mir weitere Inhalte, die mir gefallen könnten.

Das klingt erstmal gut ...

Tatsächlich werde ich in eine persönliche Unterhaltungsfilterblase eingesperrt, weil es nur darum geht, meinen Geschmack zu spiegeln: das, was mir sowieso schon gefällt. Wie diese Netflix-Persona genau entsteht, lässt sich nicht nachvollziehen. Und nur durch permanenten Konsum können die Empfehlungen perfekter werden – also gebe ich immer mehr Daten ab und lasse mich digital betreuen.

Viele Nutzer würden sagen, ich schaue bei Streaming-Anbietern manche Doku oder Polit-Serie, die ich anderswo nicht finde.
Mir geht es nicht primär um Inhalte, sondern um das System Streaming. Zugleich zeigt etwa das Beispiel der Serie „Pandemie“ (Netflix, Anm. d. Red.), dass auch Inhalte problematisch sein können: Sie ist in Zeiten des Corona-Ausbruchs erschienen. Der Zuschauer denkt, er lerne dort viel über Viren. Dabei zeigt die Serie eine große Bedrohung auf und schürt Ängste, zugleich zeigt sie die Helden, die sich gegen das Virus einsetzen. Das ist keine zeitkritische Auseinandersetzung, sondern Unterhaltung.

Aber gegen Unterhaltung spricht doch nichts?

Nein, aber sie lenkt den Blick ab von der Auseinandersetzung mit der Streaming-Industrie selbst. Bei allen Diskussionen über Filterblasen und digitalen Überwachungskapitalismus haben wir bislang nur Plattformen wie Facebook und Google in den Blick genommen. Kaum jemand denkt über Unterhaltungsangebote nach.

Viele Menschen würden einwenden, dass sie durchaus unterscheiden, ob sie eine seriöse Nachrichtensendung verfolgen oder eine Serie, die in erster Linie der Unterhaltung dient ...

Die Sehgewohnheiten prägen uns fundamental. Wir sind medial sozialisiert. Anschalten, um abzuschalten, ist in Ordnung. Aber in allem, was ich wahrnehme, vermittelt sich eben auch ein Weltbild. Das Ungleichgewicht zwischen Information und Unterhaltung ist unseriös, weil Information und Unterhaltung gleichermaßen bildend sind, aber mit unterschiedlichem Hintergrund.

Welche Auswirkungen befürchten Sie?

Einerseits leben wir in einer „On-Demand“-Gesellschaft. Wir erwarten, dass uns digitale Medien jederzeit in höchster Geschwindigkeit alles anbieten, was uns interessiert. Man hat keine Geduld mehr, keine Ruhe, sich mit etwas zu beschäftigen.

Und andererseits?

Will ich nur noch Dinge, die mir gefallen und die zu mir passen, konsumieren. Das ist verbunden mit einem Rückgang an Kritikfähigkeit und einer ständigen Suche nach Anerkennung. So wie der Christ von Gott als einzelner Mensch gesehen wird, so werde ich jetzt, säkular von Netflix, als Bedürfniskörper gesehen. Netflix sieht mich, misst mich, versteht mich – und gibt mir Orientierung durch die Welt der Unterhaltung.
Tatsächlich interessiert Netflix sich nicht für mich als konkreten Menschen mit konkreten Fragen, Sorgen und Bedürfnissen – sondern für meine Netflix-Persona, also eine Abstrahierung meiner Persönlichkeit.

Und andererseits?

Will ich nur noch Dinge, die mir gefallen und die zu mir passen, konsumieren. Das ist verbunden mit einem Rückgang an Kritikfähigkeit und einer ständigen Suche nach Anerkennung. So wie der Christ von Gott als einzelner Mensch gesehen wird, so werde ich jetzt, säkular von Netflix, als Bedürfniskörper gesehen. Netflix sieht mich, misst mich, versteht mich – und gibt mir Orientierung durch die Welt der Unterhaltung.
Tatsächlich interessiert Netflix sich nicht für mich als konkreten Menschen mit konkreten Fragen, Sorgen und Bedürfnissen – sondern für meine Netflix-Persona, also eine Abstrahierung meiner Persönlichkeit.

Wie weit trägt der Vergleich zwischen Religion und Digitalisierung?

Die Ebene der Gemeinschaft ist in beiden Zusammenhängen wichtig. In der Frühphase der Corona-Pandemie hat Netflix den Community-Button eingeführt, sodass man gemeinsam mit Freunden, jeder bei sich zu Hause, einen Film schauen konnte. Auch Nächstenliebe kommt vor mit Slogans wie „Sharing is caring“.

Sehen Sie hier Religionsvertreter gefragt?

Die Frage, was die Kirche zur Debatte um die Digitalisierung beisteuern kann, ist sehr interessant. Wie könnte sie konkret dazu beitragen, dass Menschen in einer besseren, gerechteren Streaming-Gesellschaft leben? Darüber sollte ökumenisch-gemeinschaftlich nachgedacht werden.

Handelt es sich auch um ein Generationenproblem?

Was Netflix mit den Abonnenten macht, ist unabhängig davon, ob sie 20 oder 50 sind. Aber die Altersgruppen gehen unterschiedlich damit um. Die jüngere Generation hat einen unkomplizierten Zugang zu Streaming-Diensten. Es ist das mediale Biotop, mit dem sie aufgewachsen sind, so wie bei Älteren das Fernsehen. Viele aus dieser Generation begreifen das, was geschieht, nicht als Verlust von Souveränität, sondern als Wahlfreiheit. Hier bräuchte es mehr Dialog zwischen den Generationen.

Welche Lösung schlagen Sie vor?

Wir brauchen mehr Digitalkompetenz. Wir sind größtenteils digitale Analphabeten. Wir lernen Sprachen, unsere Muttersprache und Fremdsprachen. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Programmiersprachen sind die Sprachen der Gegenwart, aber wer beherrscht sie? Wer weiß, wie ein Algorithmus funktioniert?
Wir diskutieren nur auf der Ebene von Gefallen und Nichtgefallen. Dabei müssten schon Kinder in die digitale Kultur eingeführt werden. Das bedeutet mehr, als zu wissen, welcher Button zu welchem Angebot führt. Wenn wir keine Digitalkompetenz erwerben, sind wir den Gewinnoptimierern des Silicon Valley machtlos ausgeliefert.“