CICERO ONLINE. “NETFLIX GEFÄHRDET DIE DEMOKRATIE. DIE DIGITAL NATIVES SIND ZUTIEFST NARZISSTISCH”
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CICERO ONLINE. “NETFLIX GEFÄHRDET DIE DEMOKRATIE. DIE DIGITAL NATIVES SIND ZUTIEFST NARZISSTISCH”

CICERO ONLINE. “NETFLIX GEFÄHRDET DIE DEMOKRATIE. DIE DIGITAL NATIVES SIND ZUTIEFST NARZISSTISCH”

Marcus S. Kleiner im Gespräch mit Björn Eenboom.

Quelle: CICERO ONLINE

ZITATE:

„Herr Kleiner, Sie setzen sich als Medienwissenschaftler in ihrem aktuellen Buch kritisch auseinander mit modernen Sehgewohnheiten und deren Inhalten. Die französische Schriftstellerin Françoise Sagan sagte über das Fernsehen des letzten Jahrhunderts: „Das Fernsehen hat aus dem Kreis der Familie einen Halbkreis gemacht.“ Hat dieser Satz noch Bestand?

KLEINER: Die Gültigkeit dieser Betrachtung ist mittlerweile verfallen, da sich die Sehgewohnheiten innerhalb der Familie radikal verändert haben. Fernsehrituale, wie etwa die große Familienshow am Samstagabend um Viertel nach acht gehören der Vergangenheit an. Bewegtbilder werden heutzutage zumeist singulär gesehen. Viele Kinder besitzen bereits ein Tablet und schauen dort hinein. Zudem ist Mobilität ein wichtiges Thema. Denn Inhalte müssen sich meinem persönlichen Bewegungsrhythmus anpassen. Wenn ich im Zug sitze und mir etwas anschauen möchte, muss das möglich sein. Entweder schaut man sich das Programm der Öffentlich-Rechtlichen über einen ruckeligen Livestream an, oder es werden bei Filmen und Serien die Streaming-Dienste wie beispielsweise Netflix, Amazon Prime Video, Apple TV in Anspruch genommen. Im Gegensatz zum klassischen Fernsehen, das mir vorschreibt, was ich wann zu sehen habe, kann ich bei Streaming-Diensten überall das sehen, was ich vermeintlich will, wann ich will. Das Fernsehen mit seinen Bewegtinhalten ist nicht mehr das Fenster zur Welt, sondern ist in die Welt hinausgetreten.

Ihre Hauptthese lautet, dass Streaming-Dienste das Potenzial haben, die Demokratie zu gefährden. Wie meinen Sie das?

KLEINER: Streaming-Dienste tragen wesentlich zur Selbstentmündigung und zur Selbstausbeutung bei. Ein mündiger Bürger, der die Demokratie stützt und weiterentwickelt, lässt sich nicht von äußeren Einflüssen lenken und gründet sein Weltbild auf der Basis von Informationen und Handlungen, die er selbst frei bestimmt hat. Die Idee der Streaming-Dienste ist hingegen, dem Nutzer die Entscheidungen abzunehmen, was sie sehen wollen. Das geschieht durch einen hochkomplexen Algorithmus, der das Nutzungsverhalten eines jeden Einzelnen komplett überwacht und analysiert, um daraus zu interpretieren, was ich sehen will, bevor ich es eigentlich weiß. Paradoxerweise zahle ich für diese Dienste doppelt. Zum einen durch das Abonnement und zum anderen kostenlos mit meinen Daten. Und Daten sind das Öl der Gegenwart. 

Wieso?

KLEINER: Unterhaltung ist ein ernstes Geschäft. Die Kreativindustrie ist die viertstärkste Wirtschaftsmacht in unserer Gesellschaft. Daten sind deshalb das wichtigste Äquivalent zum Geld, weil ich mit meinen Daten Einblicke gebe in all das, was mich als Menschen auszeichnet: meine Psyche mit all meinen Bedürfnissen und Wünschen. Streaming-Dienste wie Netflix bieten mir dann vermeintlich das an, was zu mir passt und filtert auf diese Weise meinen Blick auf die Welt. Und da ich nur das sehe, was mich interessiert, denke ich gar nicht mehr darüber nach, ob das, was mir angeboten wird, tatsächlich auch das ist, was mir interessant erscheint. Das Empfehlungsmanagement von Netflix füttert nur die Perspektive, die sie von mir kennt und intensiviert sie. Im Endeffekt führt das zu einer kompletten Entscheidungsabgabe, die zu einer Entmündigung führt.

Aber wie werden nun aus Serienliebhabern Feinde der Demokratie?

KLEINER: Mich interessieren bei Netflix die Widersprüche. Denn sie verstehen sich durchaus als ein diskursorientiertes Medium mit einem politik- und gesellschaftskritischen Programm, aus dessen Serien sie meinungsstarke Bürger hervorbringen wollen. Doch was bleibt von einer Serie wie „House of Cards“ übrig? Die Politiklandschaft ist korrupt, machtversessen und geht sogar über Leichen. Es wird ein negatives Politikbild vermittelt, das im Endeffekt nur Stereotype zeigt. Netflix gibt also nach außen vor, wir interessieren uns persönlich für unsere Abonnenten, stattdessen schicken sie die Leute in einen unreflektierten Taumel. Das ändert sich auch nicht, wenn die Inhalte sich ändern, solange das System der algorithmischen Auswertung bestehen bleibt. Insofern trägt diese Dialektik von Inhalt und System zu einer Schwächung der Demokratie bei.

Wenn Streaming-Dienste nun so demokratiefeindlich sind, müsste Ihrer Meinung nach die Politik hier nicht einschreiten, um zu regulieren?

KLEINER: Ich bin ein Zensurgegner, da Regulierung letztendlich Verbot bedeutet und somit den Diskurs verunmöglicht. Die Datenauswertung der Streaming-Dienste fußt auf der Grundlage des Rechtsstaates, und mit unserer Einwilligung in die allgemeinen Geschäftsbedingungen erlauben wir es ihnen. Ich finde es wichtig, einen Diskurs anzustoßen, damit die Politik gemeinsam mit dem Verbraucherschutz und den Abonnenten in den Dialog treten mit den Streaming-Anbietern, um für mehr Transparenz in das Datengeschehen zu werben. Denn nur Transparenz schafft eine fundierte Basis, um Entscheidungen zu treffen.

Denken Sie, der mündige Bürger kann nicht mehr zwischen Bildung und Unterhaltung unterscheiden? Wir haben schließlich die Freiheit, umzuschalten von Netflix zu den Öffentlich-Rechtlichen.

KLEINER: Wir haben immer die Wahl umzuschalten, noch nie war die Vielfalt größer. Aber es ist kein Umschalten mehr zwischen besser und schlechter, wenn es um das Unterhaltungsangebot geht. Die Öffentlich-Rechtlichen senden mittlerweile genauso viel Trash wie die Privaten. Es ist zu einfach gedacht, zu sagen, die Öffentlich-Rechtlichen sind die Guten, die Privatsender sind die Bösen, und der Teufel sitzt bei Netflix. Es ist vielmehr eine Melange, die kein Außen mehr kennt. Die Schwierigkeit besteht darin, aus diesem Strom von Gleichheit und Gleichförmigkeit auszubrechen, um Bildung zu erfahren und nicht nur dazusitzen, und zu schauen, was mir vorgesetzt wird. Adorno bringt es auf den Punkt: „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der Anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“ Das ist eine Haltung, die ich auf die heutigen Verhältnisse transformiert, immer noch sehr klug finde.

Besonders anfällig für diese Unterhaltungsfilterblasen seien die sogenannten „Digital Natives“. Warum?

KLEINER: Die Generation der „Digital Natives“ ist eine schizophrene Generation. Einerseits ist sie hochsensibel, was die Themen des Zeitgeistes anbelangt wie Sexismus, Rassismus und den Klimaschutz, andererseits ist sie durch das Aufwachsen in den digitalen Medienkulturen zutiefst narzisstisch. Es handelt sich hierbei um eine sogenannte „Like“-Ökonomie, die ständig nach Bestätigung giert. Seien es die Herzchen von „Instagram“ und „Twitter“ oder die Daumen von „Facebook“. „Digital Natives“ haben eine On-Demand-Haltung, die ein Ergebnis in Windeseile erzielen wollen. Sei es, um eine Bar in einer fremden Stadt zu finden, oder was sie als Nächstes lesen wollen. Die Antworten auf diese Fragen finden sie vorsortiert in Empfehlungslisten. Man will keine dicken Theorieschinken mehr lesen und lange über die Themen der Welt zu diskutieren. Komplexität und Ambivalenz ist ihnen fremd.

Ist diese digitale Anfälligkeit für Manipulation eine mögliche Erklärung für den Aufstieg eines schillernden Unternehmers wie Donald Trump zum US-Präsidenten?

KLEINER: Amerika hat seit dem 20. Jahrhundert schon immer diese Verbindung von Unterhaltung und Politik gehabt. Man denke an den mittelmäßigen Schauspieler Ronald Reagan, der vor den Karren der Republikaner gespannt wurde. Trump ist ein Unterhaltungsprofi, der mit seiner Twitter-Politik genau verstanden hat, wie man Leute in einen Erregungszustand bringen kann. Es geht ihm dabei nur um Emotionen. Dem Anspruch auf Rationalität stellt er sich gar nicht. Diese Verhältnisse werden wir in Deutschland in den nächsten Jahren noch nicht abbilden – zum Glück, man stelle sich einmal einen Bundeskanzler wie Heiner Lauterbach oder Til Schweiger vor. Mit der AfD haben wir jedoch bereits eine Partei der negativen Emotionalität. Statt mit Inhalten und Programmen, ist die AfD vor allem gut darin, den Leuten Angst zu machen, um Hassgemeinschaften zu bilden. Wie gut diese unterhaltungsbasierte Politik funktioniert, sieht man an Figuren wie Björn Höcke und Andreas Kalbitz, die im Wesentlichen für diese Erregungsspiralen stehen. Das funktioniert auch digital sehr gut, wenn man sich die Verbindungen der AfD zu Identitären wie Martin Sellner anschaut.

Neil Postman konstatierte in den 1980er Jahren, dass wir uns zu Tode amüsieren. Sind wir auf dem besten Weg, ins digitale Delirium abzugleiten und zu Unterhaltungs-Untoten zu werden?

KLEINER: Wir haben immer noch die Wahl, zu entscheiden. Wir haben die Wahl, in einen Dialog zu treten, mit uns selbst und der Welt. Wir müssen den Strom der Fremdbestimmtheit unterbrechen, ansonsten unterwerfen wir uns den Vermittlern der Digitalwirtschaft und des Überwachungskapitalismus. Wir müssen darauf hinaus, Differenzerfahrungen zuzulassen und Widersprüche herauszustellen. Nur so können wir den medialen Strom unterbrechen, das kann unangenehm sein, aber wir können das System von außen nicht neu gestalten.“