24.08.2002 Marcus S. Kleiner, »Die neuen Heiligen der Mediengesellschaft. Eine Kritik an der Medienkritik«, 
in: Neue Zürcher Zeitung
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24.08.2002 Marcus S. Kleiner, »Die neuen Heiligen der Mediengesellschaft. Eine Kritik an der Medienkritik«, 
in: Neue Zürcher Zeitung

24.08.2002 Marcus S. Kleiner, »Die neuen Heiligen der Mediengesellschaft. Eine Kritik an der Medienkritik«, 
in: Neue Zürcher Zeitung

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Zitat:

Wirft man einen Blick auf die Medienlandschaft der letzten Jahre, so fällt auf, dass sich eine bestimmte Art von Mediengestalten etabliert hat. Die Autoren dieses Beitrages nennen sie die neuen Heiligen. Dieser Typus von Mediengestalten vereinigt in sich (pseudo-) religiöse und weltliche Eigenschaften, sein Einfluss bezieht sich auf die gesamte Gesellschaft und die individuelle Lebenswelt, seine Vertreter stammen aus allen sozialen Teilsystemen. Diese Erscheinung bedarf neuer Formen der Medienkritik.

Heilige haben sich stets gut vermarkten lassen. Sie haben immer dazu gedient, ihre Erfinder in der Öffentlichkeit darzustellen und deren Botschaft zu verbreiten. Neben den christlichen Heiligen, die gegenwärtig allerdings fast vollständig ihre Bedeutung verloren haben, sind es jetzt die Ausgeburten des Medienhimmels, die an ihre Stelle getreten sind. Wir kennen sie alle und konsumieren sie in unterschiedlichen Rationen: Stefan Raab, Dolly Buster, Verona Feldbusch, Dieter Bohlen, Marcel Reich-Ranicki, Benjamin von Stuckrad-Barre, Joschka Fischer, Boris Becker, Franz Beckenbauer, Michael Schumacher und andere Simulationen. Waren die traditionellen Heiligen noch relativ individuell und charismatisch, so verliert in Zeiten seiner seriellen Reproduktion auch der beste Medienheilige seine unverwechselbare Aura. Der Ein- und Ausschluss aus dem Medienhimmel ist an der Tagesordnung.

Wer oder was ist daran schuld? «Das ist die Quote», sagen die Experten. Die Einschaltquote ist der «verborgene Gott dieses Universums», wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu betonte. Für die Medienproduzenten und die Medienheiligen ist sie ein Messinstrument. Das Diktat der Einschaltquote entscheidet über Heiligsprechung und Aufnahme in den Medienhimmel sowie über Verdammung bzw. Ausschluss aus ebendiesem.

Konformismus des Andersseins

Trotz ihrer Austauschbarkeit, also der Beliebigkeit ihrer individuellen Existenz, haben die neuen Heiligen aber mehr Macht denn je erlangt. Der medial suggerierte Distinktionsgewinn (durch Identifikation mit einem der Auserwählten), der der Mediengemeinde Angebote von Identität und Einmaligkeit verspricht, mündet entsprechend im Konformismus des Andersseins. Austauschbarkeit und beliebige Ersetzbarkeit der Akteure (ob Medienheilige oder Mediengemeinde) einerseits, permanente Extension des Mediums und der Medien (also der neuen Heiligen) andererseits. Es handelt sich um eine für das mediale Universum konstitutive Tatsache: Die Macht der Austauschbarkeit, der Konformismus der Moden und das Diktat der Einschaltquote bestimmen die Realität massenmedialer Unterhaltung.

Die traditionellen Heiligen waren zumeist Visionäre und Propheten, verbannt aus ihren eigenen Gesellschaften. Sie prangerten andere an und träumten von einer anderen Welt. Sie wurden oft eingesperrt und gefoltert. Von den traditionellen Heiligen scheinen heute nur noch wenige «aktiv» zu sein: Da fährt der eine oder andere Autofahrer das Bildnis des heiligen Christophorus mit sich spazieren, in der Hoffnung, dieser möge seine schützenden Hände über ihn legen. Aber wer kennt noch den heiligen Balduin oder die heilige Agathe? Kurz: Die traditionellen Heiligen sind so gut wie völlig von der (individuellen, sozialen und medialen) Bildfläche verschwunden.

Mediales Design

An ihre Stelle ist eine neue Generation von Auserwählten getreten – Auserwählte freilich, die im Gegensatz zu ihren historischen Vorläufern nicht unbedingt das Zeitliche segnen müssen, um den Rang eines Anbetungswürdigen zu erlangen. Die neuen Identifikationsfiguren und Lichtgestalten werden nicht mehr an die Kirchendecken gepinselt, sondern flimmern über die Mattscheibe, zieren mit ihrem Antlitz die Titelseiten der Hochglanzmagazine, schießen Tore, bewegen ihren Mund zum Playback oder müssen sich auf anderem Wege würdig erweisen, in den Medienhimmel aufgenommen zu werden, wo sie dann allerorts einsetzbar und zugleich austauschbar sind. Sie werden also nicht von der katholischen Kirche, sondern von den Medien gemacht. «Anstelle der Autorität der Bibel», wusste Theodor W. Adorno, «tritt die des Sportplatzes, des Fernsehens.» Die neuen Heiligen sind Kunstprodukte einer künstlichen Ära: mediales Design.

Dennoch haben diese neuen Heiligen mit den traditionellen einige Gemeinsamkeiten. Wer sich die Geschichte der traditionellen Heiligen anschaut, stellt fest, dass Heilige bzw. Schutzheilige nach Bedarf produziert werden. Ihnen kann die Heiligkeit (noch nach Jahrhunderten) ebenso schnell wieder ab- wie zugesprochen werden. Wie schon die traditionellen Heiligen gehören die neuen Heiligen dem Volk und verschaffen ihren «Managern» (Kirche, Medien) große Gewinne. Sie sind prominent, auf Zielgruppen zugeschnitten und im Gegensatz zum klassischen Star bereits darauf angelegt, von vielen als Provokation empfunden zu werden. Das Anstößige normalisiert sich freilich schnell, d. h., die neuen Heiligen als Medienphänomen mutieren zum festen Repertoire der Medienlandschaft.

Diese Heiligen sind oder geben sich, im wahrsten Sinne des Wortes, volksnah. Sie sind Identifikationsfiguren, mit deren Hilfe man sich der eigenen Normalität und Dazugehörigkeit versichern kann. Solange Normalität und Dazugehörigkeit die höchsten Werte der Menschen darstellen, genügt jede Form massenmedialer Unterhaltung, um dieses Grundbedürfnis zu befriedigen. Die neuen Heiligen wollen authentisch sein, wobei zu untersuchen wäre, inwieweit die geforderte Authentizität ein Resultat der von Günter Anders beklagten Antiquiertheit des Menschen ist. Denn nichts ist auffälliger in der herrschenden Mediokratie als die ständige Problematisierung des Menschen. Davon zeugen die nachmittäglich ausgestrahlten Bekennungsshows, in denen «richtiges» Verhalten eingeübt wird. Die Produktion von Konsens wird vorangetrieben, indem sie einen Kanon der (medialen) Gebote und Verbote formuliert. «God is in the TV», heißt es in einem Song von Marilyn Manson.

Soziales Band

Der Medienphilosoph Norbert Bolz erhebt dagegen allerdings Einspruch in seiner Studie «Die Konformisten des Andersseins»: «Die Massenmedien tun so, als ob sie für Konsens und Versöhnung plädierten; doch tatsächlich fördern sie den Streit.» Bolz übersieht hier allerdings den grundlegenden Mechanismus, dass die Produzenten aus der Medienbranche versuchen, unter den Mediennutzern Konsens in Form von Fangemeinden oder «interest groups» herzustellen. Sie bieten Gesprächsstoffe und fungieren somit als soziales Band. Auch mögliche Streitigkeiten unter diesen Gemeinden ändern nichts an dieser projektierten Produktion von Konsens. Dissens oder Streit wird hingegen fast ausschließlich auf Seiten der Medienkritiker produziert. Jedes neue Medienformat ruft regelmäßig den Hohn, das vermeintlich überlegene Pathos der Distanz oder die vernichtende Kritik der professionellen Medienbeobachter hervor – auch diese Haltung ist letztlich eine Produktion von Konsens.

Medienguerilla

Wie soll man nun auf diese neuen Medienerscheinungen reagieren? Medienkritik ist wie Kulturkritik, deren Bestandteil sie ist, ein Sammelbegriff für die zahllosen Kommentare, mit denen die Intellektuellen von jeher das Geschehen ihrer Zeit begleitet haben – für jene Tradition des Einspruchs, die im Namen einer Wahrheit ihre Pfeile auf Zeitphänomene (ob sie nun sozialer, politischer, künstlerischer oder eben kultureller Natur waren) schoss. Indem sich die Logik der Medienkritik bisher fast ausschließlich darauf beschränkt, auf Phänomene der Medien-(Unterhaltungs-)Kultur zu reagieren, und sich zunehmend selbst wie Unterhaltung liest bzw. anhört, affirmiert und reproduziert sie zuallererst den Gegenstand ihrer Kritik – die Medien-(Kultur-)Industrie. Dadurch wird diese immun gegen Kritik. Die Medien-(Kultur-)Kritik verleiht der Medien-(Kultur-)Industrie zuallererst die von ihr unterstellte Macht, da sie sie andauernd thematisiert und damit für allmächtig erklärt.

Gegen die medialen Bilderwelten und Heiligenproduktionen sollte man daher eine «Medienguerilla» ins Feld führen. Die Medienguerilla richtet ihr Augenmerk auf das aktuelle, das offen daliegende Material und nicht auf die Suche nach einem Sinnzentrum, das sich möglicherweise hinter den Erscheinungen verbirgt und durch den Wahrheitsanspruch der eigenen Position legitimiert wird. Nicht, welche Bedeutung diese (Zeitgeist-)Phänomene haben, sollte untersucht werden, sondern auf welche Weise sie konstituiert werden und welche heterogenen Praktiken sie bündeln. Statt die Legitimität dieser Erscheinungen zu prüfen, sollten die Mechanismen aufgespürt werden, die die Frage klären helfen, warum bestimmte Phänomene in der jeweiligen sozial- kulturellen Situation (sozial und medial) machtvoll werden. Auf diese Weise könnte auch dem beredten Schweigen der frohen Botschaft der neuen Heiligen nachgespürt werden. Es geht einer Medienguerilla letztlich um die Ausbildung einer kritischen Haltung, die die Möglichkeiten eines anderen Denkens und Handelns aufzeigt. Diese Form von Kritik könnte man, in Anlehnung an Michel Foucault, «als die Kunst, nicht dermaßen vom Zeitgeist und von der Last des Geistes der Vergangenheit – die Verfasser regiert zu werden», definieren. Somit könnte sich Medienkritik diesseits eines banalen Kulturpessimismus, einer anachronistischen Medienschelte und einer euphorisierenden Sichtweise bewegen.

* Marcus S. Kleiner ist Lehrbeauftragter für Medien- und Kultursoziologie an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg und Mitherausgeber des Kulturbuches «quadratur». Marvin Chlada ist Autor, Regisseur und Musiker.